Laut Paul Ferrini ist jegliche Realität und Wahrheit die Liebe. Laut Sartre ist jegliches Dasein ausschließlich positiv. Folglich muss die Erfahrung der Wahrheit, insofern man das Nicht-sein als unwahr bezeichnet, die Erfahrung der Liebe sein. Und das ist schließlich unser Ziel. Die Frage ist: Wie kann ich dafür sorgen, dass ich etwas anderes als die Wahrheit erfahre? Ist nicht jede Erfahrung eine Erfahrung der Wahrheit?
Nach meiner persönlichen Erfahrung ist die Erfahrung der Schamgefühle nicht negativ: Wenn das Bewusstsein von dem Schamgefühl ein erkennendens Bewusstsein ist, ich also meine Schamgefühle erkannt habe, fühle ich mich gut dabei. Lediglich das ständige unerkannte Wirken, erfahre ich als unerträglich. Ebenso ist es mit der Angst: Sobald es mir gelingt, die Angst zu erkennen und ihr Aufmerksamkeit zu schenken, fühle ich mich gut dabei, selbst, wenn sie bleiben würde. Sie müsse lediglich erkannt bleiben. Dann denke ich mir: von mir aus, gebt mir noch mehr Angst, solange ich sie erkennen kann. Lediglich unerkannte Angst, erfahre ich als unerträglich. Und so ist es schließlich auch mit den Schuldgefühlen: Wenn ich sie erstmal erkannt und ihnen Aufmerksamkeit geschenkt habe, und mir die Schuld vergebe, kann ich sie loslassen. Aber die bloße Erfahrung des erkannten Bewusstseins von Schuldgefühlen selbst, fühlt sich gut an: Ich sage, gebt mir mehr davon, damit ich es erkennen kann. Lediglich unerkannte Schuldgefühle, und die Schuld, die ich mir nicht vergebe, empfinde ich als unerträglich. Schließlich erfahre ich die Erkenntnis selbst als segnend.
Wenn ich von der Erfahrung der Liebe spreche, spreche ich ja vom Bewusstsein von Liebe. Nach meinen Erfahrungen sind alle Bewusstseine positiv, die erkannt sind: Lediglich unerkanntes Bewusstsein fühlt sich negativ an. Da ja jegliche Negativität nur der Freiheit entspringen kann, muss ich auch selbst in meiner Freiheit daran schuld sein, diese Negativität ausgelöst zu haben. Mein Bewusstsein ist jenseits der Welt: die Welt kann nicht einwirken. Ich kann ein Bewusstsein von der Welt haben, nämlich durch Wahrnehmung, und ich habe ein Bewusstsein von mir selbst. Wir gehen davon aus, dass jegliches Bewusstsein, Bewusstsein von etwas ist. Deshalb kann man das Bewusstsein nicht direkt beeinflussen, da man als Gegenstand, der das Bewusstsein beeinflusst, ein Ding in diesem Bewusstsein setzen würde. Dann würde das Bewusstsein aber aus Gegenständen bestehen. Da das nicht ist, sind diese Bewusstseine nicht durch Beeinflussung entstanden, sondern ich habe sie durch setzendes Bewusstsein gesetzt. Es kann deshalb nur in meiner Verantwortung liegen, ob ich die Positivität oder die Negativität erfahre.
Wir kommen zur Kernfrage zurück: "Wie ist es möglich, etwas zu erfahren, was nicht die Wahrheit ist?" "Ich kann ja einen bestimmten Aspekt meines Seins nur dann "nicht sehen" wollen, wenn ich über den Aspekt, den ich nicht sehen will, genau im Bilde bin. Dass bedeutet, dass ich ihn in meinem Sein anzeigen muss, um mich von ihm abwenden zu können; mehr noch, ich muss ständig daran denken, um aufzupassen, dass ich nicht daran denke. Darunter ist nicht nur zu verstehen, dass ich notwendig das, vor dem ich fliehen will, ständig mit mir herumtragen muss, sondern auch, dass ich den Gegenstand meiner Flucht im Auge haben muss, um ihn zu fliehen, was bedeutet, dass die Angst, ein intentionales Augenmerk auf die Angst und eine Flucht vor der Angst zu beruhigenden Mythen in der Einheit ein und desselben Bewusstseins gegeben sein müssen. Kurz, ich fliehe, um nicht zu wissen, aber ich kann nicht umhin zu wissen, dass ich fliehe, und die Flucht vor der Angst ist nur ein Modus, sich der Angst bewusst zu werden. So kann sie eigentlich weder verborgen noch vermieden werden."(Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, s.82)
Insofern ich die Angst fliehe, nichtet mein Vermögen, mich gegenüber dem, was ich bin, dezentrieren zu können, die Angst und nichtet sich selbst, insofern ich die Angst bin, um sie zu fliehen. "Das ist das, was man Unaufrichtigkeit nennt. Es geht also nicht darum, die Angst aus dem Bewusstsein zu vertreiben oder sie als unbewusstes psychisches Phänomen zu konstituieren: sondern ich kann mich ganz einfach unaufrichtig in das Erfassen der Angst begegnen, die ich bin, und diese Unaufrichtigkeit, die das Nichts, das ich mir gegenüber bin, ausfüllen soll, impliziert gerade dieses Nichts, das durch sie aufgehobn wird."(Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, s.82)
"die Unaufrichtigkeit kommt nicht von außen zur menschlichen Realität. Man erleidet seine Unaufrichtigkeit nicht, insofern erleiden immer von außen kommt, man wird auch nicht von ihr infiziert, sie ist kein Zustand. Sondern das Bewusstsein affiziert sich selbst mit Unaufrichtigkeit. [...] Wer sich mit Unaufrichtigkeit affiziert, muss Bewusstsein (von) seiner Unaufrichtigkeit haben, weil j a das Sein des Bewusstseins Seinsbewusstsein ist. Ich muss also wenigstens darin aufrichtig sein, dass ich mir meiner Unaufrichtigkeit bewusst bin. Dann aber vernichtet sich dieses ganze psychische System. [...] Hier liegt ein verschwimmendes Phänomen vor, das nur in seiner eigenen Unterschiedenheit und durch sie existiert."(Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, s.82)
Jeder Mensch, der das Gefühl hat, dass sein Leben verschwommen, unklar, verworren oder schleierhaft ist, sollte sein Leben auf Aufrichtigkeit überprüfen. "Die einzige Ebene, auf der wir die Weigerung des Subjekts situieren können, ist die der Zensur. [...] [D]enn nur sie kann wissen, was sie verdrängt. [...] wir müssen zwangsläufig zugeben, dass die Zensur wählen kann und, um zu wählen, etwas sich vorstellen muss. [...] Das Bewusstsein (von) sich der Zensur muss Bewusstsein (davon) sein, Bewusstsein des zu verdrängenden Bewusstseins(z.B. Bewusstsein eines Triebs) zu sein, aber gerade, um nicht von ihm Bewusstsein zu sein."(Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, s.91) "Was muss der Mensch in seinem Sein sein, wenn er unaufrichtig sein können soll?"(Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, s.94)
"Die Faktizität[Tatbestand] muss behauptet werden als die Transzendenz[Jenseits] seiend, und die Transzendenz als die Faktizität seiend, so dass man in dem Augenblick, da man die eine erfasst, plötzlich der anderen konfrontiert sein kann."(Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, s.94) Das bedeutet nichts anderes, als dass man sein Vermögen und seine Freiheit benutzt, um sich selbst die Unwahrheit vorzumachen. "Man sieht ja, welchen Gebrauch die Unaufrichtigkeit von diesen Urteilen machen kann, die alle darauf abzielen, festzustellen, dass ich nicht das bin, was ich bin. Wenn ich nur das wäre, was ich bin, könnte ich zum Beispiel einen Vorwurf, den man mir macht, ernsthaft betrachten, mich gewissenhaft befragen, und ich wäre vielleicht gezwungen, seine Richtigkeit anzuerkennen. Aber gerade durch die Transzendenz entgehe ich allem, was ich bin. [...] Ich bin auf einer Ebene, wo mich kein Vorwurf treffen kann, denn das, was ich wirklich bin, ist meine Transzendenz."(Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, s.96)
"man befreit sich von sich gerade durch den Akt, durch den man sich zum Objekt für sich macht. Ständig das inventarisieren, was man ist, heißt sich ständig verleugnen und sich in eine Sphäre flüchten, wo man nichts weiter als ein reiner, freier Blick ist. Die Unaufrichtigkeit, sagten wir, hat zum Ziel, stellen wir fest, dass man dieselben Ausdrücke benutzen muss, um die Ehrlichkeit zu definieren. Was heißt das? [...] Die Unaufrichtigkeit ist nur möglich, weil sich die Ehrlichkeit bewusst ist, von Natur aus ihr Ziel zu verfehlen. [...] Also muss, damit Unaufrichtigkeit möglich sein soll, die Ehrlichkeit selbst unaufrichtig sein."(Jean Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, s.106)
Sobald ich also danach strebe, ehrlich zu sein, bin ich unaufrichtig. Aufrichtigkeit ist nur möglich, wenn ich vor der Wahrheit nicht flüchte: Und die Wahrheit ist meine Freiheit. Sie hat nichts zu tun mit Werten. Diese Werte sind nur Forderungen, die es zu erfüllen gilt. Mit ihnen wird aber lediglich die Vorstellung von Werten verwirklicht, nicht die Werte selbst: Das Sein von uns wird nicht durch Werte erfüllt, sondern durch die Vorstellung, den Forderungen gerecht geworden zu sein. Es ist nur ein Spiel mit der Vorstellung dieser Werte. Deshalb ist gerade das Streben nach einem Wert unaufrichtig. Lediglich die bloße, reine Annahme und Erfahrung der tatsächlichen Freiheit ist aufrichtig.
Damit stimmt Sartres Untersuchung mit den Texten Ferrinis überein: Lasst uns einfach nach gar keinem Wert streben. Lasst uns keine Forderungen oder Bedingungen an uns selbst stellen. Lasst uns die Freiheit einfach so als das annehmen, was sie ist, rein und unverfälscht, ohne ihr Schranken vorzuschieben: Als das Erfassen des Nichts. Und das Erfassen des Nichts ist die Angst.
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