Kann man Erkenntnisse gewinnen, ohne Erfahrungen zu machen? Nicht jede Erkenntnis entspringt der reinen Erfahrung, denn sie setzt sich aus den Eindrücken und dem Erkenntnisvermögen, dass durch sinnliche Eindrücke bloß veranlasst ist, zusammen. Daher kann man fast nicht mehr unterscheiden, was die reine Erfahrung gewesen ist, und was der Verstand produzierte. Gibt es also Erkenntnisse, unabhängig von allen Sinneseindrücken und Erfahrungen? Kant befasst sich mit dieser Frage in seinem Werk: "Kritik der reinen Vernunft". Er nennt solche Erkenntnisse a priori und unterscheidet sie von den Erkenntnissen a posteriori, die ihre Quelle in der Erfahrung haben. Doch wenn wir eine Erkenntnis a priori haben, beruht sie dann nicht auf einer Erkenntnis, die aus einer früheren Erfahrung gemacht wurde und damit die Quelle für die neue Erkenntnis gewesen ist? Wenn ich z.B. die Erkenntnis habe, dass ein Haus einstürzen wird, weil ich Regeln und Zusammenhänge der physikalischen Gesetze bereits in der Vergangenheit erkannt habe, dann ist es tatsächlich so.
Es stellt sich aber die Frage, ob es Erkenntnisse a priori gibt, die sich nicht auf empirische Erkenntnisse, d.h. solche die auf Erfahrung beruhen, zurückführen lassen, sondern rein sind. Eine reine Erkenntnis a priori ist nicht mit einer Erkenntnis a posteriori vermischt. "Eine jede Veränderung hat ihre Ursache." Dies ist z.B. keine reine Erkenntnis a priori, da der Begriff "Veränderung" nur aus der Erfahrung gezogen werden kann. Ist nicht eine Erkenntnis a priori, bei der eine Notwendigkeit gesehen wird, ohne sie zuvor erlebt zu haben? Wenn ich also die Erkenntnis habe: "Gott muss existieren", dann ist dies eine Erkenntnis a priori, denn sie lässt sich nicht auf eine reine Erfahrung zurückführen. Eine Erkenntnis lässt sich übrigens nach Kants' Verständnis nur in Urteilen ausdrücken. Jeder Satz, der einem Subjekt ein Prädikat zuordnet ist in Kants Definition ein Urteil.
Erfahrung gibt ihren Urteilen niemals einen wahren oder strengen Wert, sondern nur eine annehmende und komparative(von lateinisch comparāre = vergleichen) Bedeutung. Das bedeutet, dass die reine Erfahrung keinen Wahrheitswert übermittelt. Die Erfahrung hat nur die Bedeutung, angenommen zu werden und zu steigern, was existiert, indem die neue Erfahrung mit der alten verglichen werden kann. Jede andere Wirkung ist eine erdachte Wirkung. Jedes Urteil über den Wahrheitswert einer Erfahrung muss daher a priori sein, weil es keine wahrheitsübermittelnden Erfahrungen gibt. Jedes erdachte strenge Urteil, lässt keine Ausnahmen zu, und ist somit ebenfalls a priori. Der Satz: "alle Körper sind schwer" ist zwar keine reine Erkenntnis a priori, weil "Körper sind schwer" auf einer empirischen Erkenntnis beruht, und doch ist es ein Urteil a priori, weil "alle Körper" niemals erfahren wurden, und somit ist es mindestens teilweise eine Erkenntnis a priori. Die Wertungen der Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit sind sichere Kennzeichen für Erkenntnisse a priori.
Es ist letztlich also leicht zu zeigen, dass es reine Erkenntnisse a priori geben muss. Viele Sätze der Mathematik beispielsweise beruhen auf keiner Erfahrung und sind a priori. "Jede Veränderung muss eine Ursache haben." Der Begriff der Ursache besagt, dass die Notwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der Regel besteht, daß er gänzlich verloren gehen würde, wenn man ihn von dem, was vorher war, oder der Vorstellung davon ableiten wollte. Darum ist die Erkenntnis "Jede Veränderung muss eine Ursache haben" eine Erkenntnis a priori, da man die Ursache nicht erfahren kann, oder zumindest nicht die Wahrheit vermittelt bekommt, dass es die Ursache notwendigerweise sein muss. Nur das Urteil darüber, dass es die Ursache ist, lässt es als Ursache erscheinen, ohne dass man sich wirklich sicher sein kann, dass man eine Ursache erfahren hat.
Die hinreichende Bedingung der Existenz einer Erkenntnis, ist die Möglichkeit der Erfahrung der Erkenntnis selbst. Und kann die Erfahrung gewiss sein, wenn alle Regeln, nach denen sie existiert, immer wieder empirisch und zufällig wären? Nur die absolute Realität ist gewiss. Darum können die Regeln, nach denen die Erfahrung existiert, nicht auf die Erfahrung selbst zurückgeführt werden und Erkenntnisse dieser Regeln, sind reine Erkenntnisse a priori. Damit ist bewiesen, dass es reine Erkenntnisse a priori geben muss.
Gewisse Erkenntnisse verlassen sogar das Feld aller möglichen Erfahrungen, und durch Begriffe, denen überall kein entsprechender Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann, wird der Umfang unserer Urteile über alle Grenzen derselben erweitert.
Jedes Urteil ist analytisch oder synthetisch. Ein analytisches Urteil löst das Verhältnis zwischen dem Subjekt A und dem Prädikat B, dass versteckterweise in A enthalten ist, auf. Ein synthetisches Urteil ist dagegen eine Erkenntnis über die Verknüpfung zwischen B und A, ohne dass B in A enthalten ist. Wenn ich z.B. sage: "alle Körper sind ausgedehnt", so ist dies ein analytisches Urteil. Denn dieser Satz macht mir nur das Subjekt bewusst, da das "ausgedehnt sein" ist bereits in dem Subjekt "Körper" enthalten. Wenn ich dagegen sage: "Jeder Mensch besitzt ein Haustier.", so ist das ein synthetisches Urteil, denn im Subjekt "Mensch" ist das "besitzen" von Objekten nicht inbegriffen. Ganz sicher kann man das mit den Regeln der Notwendigkeit zur Existenz überprüfen: Kann ein Körper existieren, ohne ausgedehnt zu sein? Nein! Kann ein Mensch ohne Haustier existieren? Ja!
Ein analytisches Urteil muss daher nicht auf Erfahrung beruhen, da es im Prinzip nichts neues aussagt. Ein synthetisches Urteil dagegen beruht immer auf einer Erkenntnis a priori.
Eine Meinung ist nichts anderes als ein Urteil. Eine Ansicht oder Vorstellung beruht auf Urteilen. Kritik besteht aus Urteilen. Aber ist eine Erkenntnis ein Urteil? Ja, definitiv. Bei analytischen Urteilen, wird man sich klar darüber, was bereits ist. Bei synthetischen Urteilen erweitert man sein Bewusstsein. Warum also soll ein Urteil schlecht sein?
Laut Ferrini "Fällen wir Urteile, verjagen wir uns selbst aus dem Paradies." Allein dieser Satz ist nach Kants' Definition bereits ein Urteil. Darum wollen wir im nächsten Eintrag erklären, was Ferrini jetzt eigentlich meinen könnte...
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